Schlüsselmomente Ahnenforschung, oder – Es hat mich niemand gewarnt!

 

 

1. September 2017 | Yvonne Hausheer

 

 

Kennst du das? Ein Tag wie jeder andere ist vorüber. Alles ist erledigt, aber du sitzt immer noch vor dem Rechner.


Das Saatkorn
Gedankenlos hatte ich nach mir selbst gegoogelt und wollte einfach mal schauen, was ich finde. Wie beruhigend, das Internet wusste nicht mehr über mich als ich selbst. Unter anderem war da auch eine "Hausheer-guestbook"-Seite. Schau an, wer richtet denn für diesen seltenen Familiennamen gleich ein Gästebuch ein? Die Neugier gewann die Überhand. Jeff aus Miami kommentiert: "Distant Hausheer relative adding his name to the guestbook".  Réto aus Nyon grüsst alle Cousins. Und Maurice konnte seine Schweizer Wurzeln kürzlich bis 1543 nach Wollishofen, heute Stadtteil von Zürich, zurückverfolgen. Er erkundigte sich, ob noch jemand die Hausheer-Familie genealogisch erforschen würde. Hanspeter aus Zug erzählte von seinem Stammbaum, der zurück bis 1600 geht. Und einer suchte Informationen über einen Professor Hausheer, Theologe in Zürich, der die Zwingli-Bibel übersetzt haben soll.

 

Im Nu war auch mein Kommentar verfasst. Ich komme ebenfalls aus der Wollishofer-Sippe, einem ehemaligen Bauerndorf, das Ende 19. Jahrhundert zwangsverstädtert wurde. Das war mein gesamter Wissensstand über die Herkunft meiner Sippe am 14. April 2001, um 21:59:22.

 

Keimzeit
Von diesem Eintrag im Guestbook war nicht viel zu erwarten. Wie andere zuvor hatte ich einfach meinen "Senf" dazugegeben, und das war's. Der Alltag kam zurück.

 

Keimblättchen
Zwischen Weihnacht und Neujahr kontaktierte mich eine unbekannte Dame: Ihr Mädchenname sei Hausheer gewesen. Auch ihre Vorfahren seien aus Zürich, aber aus dem benachbarten Wiedikon. Meine Mail-Adresse hätte sie in irgendeinem online-Gästebuch gefunden. Ob wir vielleicht verwandt seien?

 

Da antwortete doch tatsächlich jemand auf jenen längst vergessenen Eintrag. Die neue Information war, dass es auch im einstigen Nachbardorf Wiedikon eine Hausheer-Sippe gegeben haben musste. Die Unbekannte meinte, sie hätte ein Bürgerbuch geerbt, darin seien sämtliche Personen verzeichnet, die in jenem Jahr in Zürich Bürger waren. Sie bot mir an, die Namen meiner Vorfahren nachzuschlagen. Das liess ich mir nicht zweimal sagen. Meine Antwort enthielt alles, was ich aktuell wusste: Luise Hausheer, 1978 hochbetagt gestorben, wohnhaft an der Kilchbergstrasse in Wollishofen. Die Hausnummer wusste ich nicht auswendig. Mit ihr im Haus hatte auch die viel jüngere Tante Emmi mit Mann und Kindern gelebt.

 

Wenige Tage später kam eine Antwort. "Ist das deine Verwandte? Eintrag Nr. 101: Luise, 1894 geboren, Schwester von Nr. 100, wohnhaft Kreis 2 (Wollishofen), Kilchbergstrasse 71.“

 

Bürgeretat der Stadt Zürich. 1911. S. 360

 

Tante Luise war natürlich nicht meine richtige Tante, denn sie war viel älter als meine Grossmama. Ausserdem war Luise immer ledig geblieben, war also eine geborene Hausheer. Soweit stimmte mein Wissen mit dem Eintrag in diesem Register überein. Die Hausnummer würde ich bei meinem nächsten Aufenthalt in Wollishofen überprüfen.

 

Aber hatte Tante Luise eine Schwester gehabt? Ich wusste nichts von Verwandten in Lenzburg oder anderswo. Bis auf Tante Emmi, die aber unmöglich die Schwester sein konnte, denn sie dürfte nur wenig älter als meine Eltern gewesen sein. Wie die Blutsverwandtschaft meiner Familie mit den beiden Tanten tatsächlich war, wusste ich nicht. Es bestand Klärungsbedarf, höchste Zeit die Eltern zu kontaktieren.


Wächst der Spross?

Mein Vater mochte nicht über seine Herkunft zu reden. Er war ein Einzelkind, dessen Eltern sich früh hatten scheiden lassen, so dass er einen grossen Teil seiner Kindheit im Waisenhaus verbracht hatte. Erst mit 19 Jahren zog er in den Haushalt seiner Mutter. Da vom Informationskanal auf der Hausheer-Seite nicht viel zu erwarten war, begann ich mich für die übrigen Familienzweige zu interessieren. Hier waren die Beziehungen klarer, denn sie wurden intensiv gepflegt. Von meiner Mutter erhielt ich die Unterlagen, die ihr ein entfernter Cousin einmal zugespielt hatte. Ausgehend von einem gemeinsamen Stammvater waren darauf die verwandtschaftlichen Beziehungen mit Namen von Kindern und Kindeskindern dargestellt. Und ihre Schwester konnte eine stattliche Genealogie über die Herkunft ihres Gatten vorweisen, die sie einst von einem Forscher günstig erworben hatte. Eine riesige Arbeit, alles auf der Schreibmaschine getippt. Ich war beeindruckt. Ob so etwas auch für das Geschlecht "Hausheer von Wollishofen" existierte? Nun erinnerte ich mich auch wieder an ein Telefonat, das ich als Elfjährige mitgehört hatte. Der Begriff "Stammbaum" war darin gefallen und den hatte ich damals nicht verstanden. Was war daraus geworden? Wieder klopfte ich bei meinem Vater an.

 

Bald darauf fand ich einen Umschlag im Briefkasten. Darin fand ich einen sehr einfachen Stammbaum, der aber endlich einige offene Fragen beantwortete.

 

Wer ist erbberechtigt? (Halbbürdig bedeutet hier Halbgeschwister) Privatarchiv

 

Die Emma im Bürgerbuch 1911 war tatsächlich die Schwester der Tante Luise, aber auch die Mutter von Tante Emmi! Vor allem aber war eben diese Emma auch meine Urgrossmutter! Tante Luise war also in Wahrheit meine Urgrosstante, Tante Emmi meine Grosstante. Ausser den Namen der beiden Tanten und einer neuen Urgrossmutter waren da noch viele weitere aufgeführt. Und alle diese Namen standen für verwandte Menschen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte.

 

Von dem Moment an war mir klar: Nichts ist mehr so, wie ich dachte. Ich wollte diese Personen kennenlernen. Oder wenigstens das, was von ihnen noch übrig ist.

 

 

Vier Generationen auf der Bank vor dem Haus an der Kilchbergstrasse in Zürich-Wollishofen.
Von links nach rechts: Eugen Hausheer, mein Vater, auf dem Arm von Anna Hausheer, geb. Huber / Emma Karrer, gesch. Ludwig, geb. Hausheer / Margaretha Scherrer, verw. Hausheer, geb. Breinlinger. 1937, Privatarchiv.

 

Der Trieb
Die Begeisterung für das detektivische Aufspüren von Fragmenten verstorbener Personen hat mich seither nicht mehr losgelassen. Genealogie ist ein Puzzlespiel, von dem 99 % der Teile nicht mehr existieren. Die restlichen sind oft schwierig aufzuspüren. Aber genau diese verborgenen Teile sind die Essenz, welche zum Entdecken locken. Der Nervenkitzel ist es, alle erhältlichen Informationen über eine Person zusammenzutragen, diese Daten zu analysieren und jede mögliche Lücke zu füllen. Die Suche ist endlos. Aus einer anfänglichen Sammelwut entwickelt sich nicht selten eine Form von Sucht. Ihr Vorteil ist, dass sie keine nennenswerten gesundheitlichen Folgen mit sich bringt. Und spätestens wenn der Verwandtschaft das Produkt einmal vorgelegt wird, verzeiht sie einem die „Macke“ des jahrelangen unerbittlichen Nachfragens.

 

Ich würde es wieder tun
Mit den Streifzügen in die Vergangenheit meiner Vorfahren fand ich einen persönlichen Zugang zur Weltgeschichte. Aus dem Blickwinkel der einzelnen Familienmitglieder betrachtet, erhalten Kriege, Epidemien, Naturkatastrophen oder auch die regionalen wirtschaftlichen Zustände eine neue Dimension. Um diese Zusammenhänge verstehen zu lernen musste ich über die blossen Lebensdaten und -orte hinauszugehen und zusätzliche Quellen berücksichtigen.

 

Die Forschung nach der eigenen Familiengeschichte hat mich auch bescheidener gemacht. Wenn ich heute vor einem scheinbar unlösbaren Problem stehe, muss ich mir nur das harte Leben voller Entbehrungen und ohne jede Sicherheiten meiner Vorfahren vergegenwärtigen und mein Anliegen wirkt dann oft nebensächlich.

 

Denn sie wusste nicht, was sie tat ...

Ohne das absichtslose Googeln nach mir selbst wären die Zeilen in jenem Gästebuch, die mein Leben verändern würden, vielleicht nie verfasst worden. 15 Jahre später entschied ich mich, ganz auf das Pferd "Ahnenforschung" zu setzen, setzte diese Webseite auf und begann mich mit den neuen Medien auseinander zu setzen.

 

Dieser Blog-Beitrag ist der jüngste Spross jenes folgenschweren Eintrag. Du verdankst ihn dem Aufruf zur Blogparade des Archivbegleiters Lars Thiele, Dresden.

Yvonnes
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